Für Fußgänger auf dem Marktplatz zeigt sich die St. Viktor Kirche als große Baustelle. Kirchturm und Turmhelm sind nahezu vollständig eingerüstet. Hinter dem Gerüst laufen aber die Sanierungsarbeiten auf Hochtouren – an der Außenfassade und im Gebälk des Turmdaches. Gleichzeitig werden die Arbeiten baugeschichtlich und wissenschaftlich begleitet. Jetzt haben die Denkmalpflegerin Dr. Bettina Heine-Hippler und der Bauforscher Peter Barthold aus Bückeburg ihre neusten Erkenntnisse der Öffentlichkeit vorgestellt und dabei spektakuläre Entdeckungen beschrieben.
Holzbohrungen für die Bauwissenschaft
Kern seiner Forschungsarbeit sind Holzbohrungen. Dabei werden etwa fingerdicke Stifte aus dem verwendeten Holz entfernt und analysiert. Die heutige Wissenschaft ist dabei in der Lage, genau zu datieren, in welchem Winter das verwendete Holz geschlagen und dann verarbeitet wurde.
Kirchturm aus dem 15. Jahrhundert
Die Bauwissenschaft geht nun davon aus, dass der Kirchturm im 15. Jahrhundert wahrscheinlich in einem Stück gemauert wurde. Die hölzerne Innenkonstruktion des Turms geht nachweislich auf die Jahre 1469 und 1470 zurück.

Spannende Reparaturgeschichte im Dachgebälk
Auf der obersten Mauerebene liegt ein Wirrwarr aus unterschiedlichen Balken auf. Zum Teil sind diese Balken auch im Mauerwerk eingelassen. Auch hier ergeben die wissenschaftlichen Untersuchungen Bauarbeiten in unterschiedlichen Jahrhunderten. Die ältesten Bauelemente stammen aus dem Winter 1476/1477. Aber auch aus anderen Jahrhunderten sind Holzarbeiten nachweisbar. Daraus ergibt sich, dass zu unterschiedlichen Zeiten das Gebälk des Turmdachs nachträglich repariert wurde. Die Wissenschaft spricht von einer riesigen, jetzt nachweisbaren Reparaturgeschichte des Gebälks. Tatsächlich wurde auch ein tragender Balken mit der Dicke von 30×30 cm repariert, der unter der Last des zentralen Kaiserstiels zerbrochen ist. Neben den Bohrungen sind auch Markierungen interessant, die frühere Handwerker hinterlassen haben. Auch alte, handgeschmiedete Beschläge haben die aktuellen Arbeiten zum Vorschein gebracht: uralte Eisenbänder haben zerborstene Sparren zusammengehalten; Mauerwerksanker haben die gemauerten Steine und das Holz miteinander verbunden. Die aktuellen Zimmerleute der Firma Müller sind angehalten, alte Markierungen auf neue Holzelemente zu übertragen und möglichst viel altes Material zu erhalten.

Einzigartige Hebevorrichtung
Die größte Sensation ist allerdings eine alte hölzerne Hebevorrichtung auf dem fünften Zwischenboden des Gebälks. Auch hier konnten Bohrungen nachweisen, dass diese Aufzugsvorrichtung bauzeitlich ist und aus den Jahren 1476/1477 stammt. Sie ist höchst wahrscheinlich einzigartig in Westfalen, möglicherweise weit darüber hinaus. Einzigartig, was das Alter angeht, den Standort und die Funktionsweise. Das Werkzeug ist eine muskelbetriebene Hebevorrichtung, die in ihre Einzelteile zerlegt werden konnte und auf diese Weise auf höhere Ebenen gewandert ist. Sie wird nun in die Liste technischer Denkmäler aufgenommen. Die neusten Erkenntnisse werden noch im August im Rahmen einer Bauforschertagung in Schweden präsentiert und international bewertet.

Warum ist der Turm so schief?
Offen bleibt die Frage, warum der Turm so schief ist. Hier bleibt Raum für Spekulationen und für legendhafte Geschichten. Eine endgültige Antwort wird es auf diese Frage vorläufig nicht geben. Zu klären bleibt auch, wie die neusten Erkenntnisse nun der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Im Gespräch ist ein Modell in der Größe von 1:10, das im Umfeld der St. Viktor Kirche von Besucherinnen und Besuchern betrachtet werden kann.
PM: Hartmut Görler/Evangelische Kirche






